Die Dunklen Lilien (Folge 2) (02.11.2006)

Der sanfte Schleier des Morgendunstes lag über der Stadt von San d'Oria. Eine tiefe Stille bildete den Gegensatz zu den tumultartigen Ereignissen des Erntedankfestes, das in der Nacht zuvor geendet hatte.

Als ich die schwach beleuchteten Alleen entlang ging, passierte ich Bürger auf dem Weg zur Arbeit, Körper zusammengezogen gegen die Kühle des Morgens. Eine Gruppe energischer, junger Abenteurer überholte schnellen Schrittes einen ächzenden Chocobo-Karren, hoch beladen mit Säcken voller Weizen, der langsam den Weg entlang rollte.
Es schien, als blühten lebhaft bunte Blumen am Wegesrand, die sich bei genauerer Betrachtung als nicht mehr als Bonbonpapier entpuppten. Bis just gestern ließen sich die begeisterten Stimmen der Kinder beim Vergleich ihrer gesammelten Süßigkeiten in eben dieser Straße vernehmen. Dieselben Kinder träumen zu dieser Stunde wahrscheinlich in ihren Betten.


„Brian. Gertrude. Mit Hilfe der Abenteurer konnten wir endlich die Motive dieser unheilvollen Geister erahnen. Die Zeit des Exorzismus ist gekommen.“

Die gleichmäßige Stimme von Roger, meinem Partner als Exorzist, sprach zu mir durch die Linkperle an meinem Ohr.

Und mit einem unterdrückten Gähnen fügte Brian hinzu: „Wer hätte gedacht, dass eine so einfache Idee es jemandem ermöglichen kann, die Lingua Inferna zu verstehen. Diese Abenteurer müssen ein gutes Gehör haben.“

Die Lingua Inferna.
Jeder, der einer Nation angehörte, die in den Großen Krieg verwickelt war, würde sich an diese beunruhigende Sprache erinnern, die die Dunklen Lilien da sprachen.

Kurz bevor das Erntedankfest begann, hatte Roger, der seine Jugend während des Krieges in Bastok verbracht hat, aufklären können, warum die Hexen diese Sprache sprachen.
Ihm zufolge war diese allen Kreaturen der Dunkelheit instinktiv verständlich. Es wird angenommen, dass der Schattenlord sie ins Leben gerufen hat, um die ethnischen und kulturellen Verschiedenheiten der einzelnen Beastmen-Armeen zu überbrücken.

Ich hatte nach einem Weg gesucht, diese Sprache zu verstehen, seitdem ich das Flüstern dieser Hexe in den Wäldern von Ronfaure hörte.
Irgendwann gelangte ich zu dem Schluss, dass man die Gestalt eines Monsters annehmen müsse, um einen Sinn in diesen unheimlichen Worten zu erkennen.

Das Fest begann einige Tage später, und wir drei gaben die seltsam anmutende Anfrage an Abenteurer aus, sich als „Monster zu verkleiden und den Hexen zu folgen.“

Ich wäre erstaunt, wenn nicht genau das von der Göttin geplant gewesen war.
Die Untersuchungen schritten schnell voran, und viele Abenteurer taten sich hervor, indem sie uns entscheidende Hinweise gaben, um die Herrschaft über die bösen Geister zu gewinnen.

Die Wahrheiten, die wir erfuhren, waren recht unerwartet:
Heimweh, verlorene Hoffnung, verflossene Liebe...
Diese sechs Hexen waren in ihre Heimatstädte zurückgekehrt, unfähig, sich von den Erinnerungen zu lösen, die einen Teil ihrer Seelen immer noch umhertrieb.

In Erwiderung zu Brians früherer Anmerkung sagte ich: „Die Dunklen Lilien haben ihr sterbliches Selbst niemals vollständig verloren. Und darum glaubte ich daran, dass die Abenteurer sie verstehen konnten, obwohl sie keine Kenntnis der Lingua Inferna hatten.“

Mir meiner wichtigen Pflicht bewusst, machte ich weiter damit, die Erscheinungen zu vertreiben.

* * *


Als im Osten die Sonne aufging, fand ich die Elvaan-Hexe Poseaulloie auf dem Exerzierplatz vor den Toren des Oraguille-Schlosses.
Ich konnte sehen, dass sie sehr wohl wusste, warum ich gekommen war, und dass sie nicht länger in dieser Welt bleiben konnte. Ihre Reise zu Altana geschah ohne Zwischenfälle, und ich reiste weiter zum Arbeiterweg, auf der Suche nach der letzten Hexe: Maryse.

Ich trat durch das Tor und steuerte die Holzpfade an, bis ich die verlorenen Umrisse von Maryse am unteren Ende der Treppe sah.
Sogar aus der Ferne konnte ich sie aufgrund ihrer überwältigenden Präsenz erkennen. Das war der Geist, den ich in Ronfaure angetroffen hatte, am Tag, als ich in San d'Oria eintraf.

Ich näherte mich ihr vorsichtig.

„Erinnerst du dich an mich, Maryse?“

Die Hexe wendete sich mir zu und starrte in die Leere, während das Licht von ihren anscheinend erloschenen Augen reflektiert wurde.

„Ich habe von deinem Bruder gehört...
Es gibt nichts zu bedauern. Er wusste und vergab alles, was du getan hast. Ich bin sicher, seine Gedanken waren bei dir bis zu dem Tag, an dem er aus dem Leben schied.“

Lichtstreifen liefen plötzlich an den Wangen der Hexe herab.


„Maryse, hör mir zu...
Du und dein Bruder... für dich gibt es nichts mehr in dieser Welt...“

„M-mein... Bruder...“

Maryse bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen und ihre Schultern zitterten, als sie die Worte hervorschluchzte.

„Der... Schatten... lord...Wir...“

Der Schattenlord.
Dieser Name war unmissverständlich.

„Sag mir, Maryse. Was geschah mit dir und deinen Schwestern?“

Und so begann sie, ihre zwanzig Jahre alte Mär zu erzählen, die sie niemals vergessen hatte.

* * *


Seit ihrer Zeit als junges Mädchen brandmarkte Maryses unnatürliche Anziehung zur Magie sie als Schrecken verbreitende „Hexe“. Irgendwann begannen sogar ihre Eltern, ihre aufkeimenden Kräfte zu fürchten.
Der einzige, der zu Maryse stand, war ihr älterer Bruder, der immer zu sagen pflegte: „Wir haben eine Bestimmung, eine von der Göttin geschaffene. Es kommt der Tag, an dem deine Magie gebraucht wird, nicht gefürchtet.“

Aber als Maryse erfuhr, dass die Schutzmaßnahmen ihres Bruders auch ihm den Hass der Stadtbewohner eingebracht hatten, floh sie aus ihrem Haus und von ihrer Familie.

Dann geschah es, dass Maryses Reise sie in Kontakt zu fünf eben solchen Ausgestoßenen brachte, und ihre Schicksale wurden für immer zusammengeschweißt. Diese sechs Einzelgänger verabschiedeten sich von ihrer schwierigen Vergangenheit und schufen einen neuen Hexenorden – die Dunklen Lilien.

Nach Gründung der Dunklen Lilien belebten die Hexen alte Sprüche der Zerstörung zu ihrem eigenen Schutz wieder. Ihre Handlungen verursachten unter den einfachen Leuten sogar eine noch größere Feindseligkeit.

Die Dunklen Lilien wurden im Land von Altanas Kindern nicht willkommen geheißen.
Verfolgt von der zivilisiertem Welt, suchten die Hexen im Norden Zuflucht und klopften schließlich an die Tore von Schloss Zvahl, der Festung des Schattenlords.
Vielleicht war diese Wendung unvermeidlich.


Den sechs wurde Audienz gewährt, und sie sprachen mit einem Ahriman, der dem Schattenlord zur Seite stand.

„Ein faszinierendes Angebot. Ihr wünscht, dem Schattenlord zu dienen? Dann müsst ihr die Dunkelheit betreten, in der wir gedeihen!“

Es geschah in diesem Moment, dass den Dunklen Lilien Gestalt und Sprache menschlicher Wesen genommen wurde, und sie wurden als monströse Schatten wiedergeboren.

Nicht lange nach ihrer Verwandlung wurde Vana'diel vom Großen Krieg überzogen.
Die Dunklen Lilien wurden an der vordersten Linie der Beastmen-Armeen eingesetzt, und sie benutzten ihre gewaltigen Fähigkeiten, um die allierten Streitkräfte von Altana zu zerschlagen.
Gerüchte von körperlosen Hexen, die angeblich alte Zaubersprüche wirken, breiteten sich schnell über das Schlachtfeld aus und schmetterten Furcht in die Herzen derjenigen, die sie hörten.
Doch sogar mit ihrer unglaublichen Macht konnten die Hexen letztendlich die Niederlage der Beastmen nicht verhindern. Und so begann die Reise des Ordens, der keine andere Zuflucht mehr hatte.

Aus Tagen ziellosen Wanderns wurden Monate, schließlich Jahre...

* * *


Während sie umhertrieben, verloren sie allmählich das Gefühl dafür, wer sie waren und wonach sie suchten. Nach zehn, dann zwanzig Jahren ihres gedankenlosen Schweifens bemerkte Maryse, dass sie ihre Begleiterinnen verloren hatte und in der Stadt ihrer Kindheit angekommen war.

„Ich hatte alles verloren... konnte nirgendwo hingehen. Hier hatte ich wenigstens die Erinnerung... an meinen Bruder.“

Als Maryse diese Worte sprach, ihre Augen gesenkt, wurde ihre Gestalt noch unwirklicher und schien bereit, völlig zu verschwinden.

Vielleicht wollte Maryse die Wahrheit nicht hören. Aber hätte ich diese Gelegenheit, sie zu überzeugen, verstreichen lassen, wäre ihr Geist vielleicht bis zum Ende der Zeit umhergewandert – so, wie sie die letzten 20 Jahre umhergewandert war.

Mit Mut zur Entschlossenheit trat ich Maryse noch einmal gegenüber.

„Maryse...
Als du den Begleiter des Schattenlords trafst, nahm er dir mehr als nur deinen sterblichen Körper und deine Worte.
Er nahm auch dein Leben... und verdammte dich zu einer Existenz als Geist.“

Maryse hob still ihren Blick zu meinem, und ihre Stimme war von Traurigkeit getrübt.

„Ich denke, ich habe es bereits gewusst...
An jenem Tag... an dem ich die Wärme deines Körpers fühlte... und Neid darauf verspürte...
Ich bin nicht länger verloren.
Bitte... schicke mich auf die Seite meines Bruders...“

“Maryse...”

“Danke... dass du mir halfst, die Wahrheit zu erkennen.“

In diesem Moment ergoss sich das Licht der Sonne über die östliche Mauer und tauchte alles davor in Wärme und Glanz. In diesem Licht war Maryses Lächeln sanft und friedlich.

Sie sah wahrlich aus wie ein Abbild der liebevollen Göttin Altana.

Ich schloss meine Augen in Verehrung und stimmte eine Passage des heiligen Buches an, um ihre Seele auf ihre letzte Reise zu schicken.
Ich glaubte daran, dass Maryse ihren Weg zu Altana finden würde.

Als ich meine Augen öffnete, war Maryse nirgendwo mehr zu sehen, aber an ihrer Stelle schwebten zahllose Staubkörner aus kristallklarem Licht.
Ich schaute endlos lang, als diese flüchtigen Teilchen langsam gen Himmel aufstiegen.


Illustration by Mitsuhiro Arita