Die Schwarzen Lilien – Erinnerungen (17.10.2007)

Die goldgelbe Sonne versank gerade hinter dem Horizont und ließ nur einen purpurfarbenen Schleier am Himmel zurück. Im Hafen empfing mich der Geruch von Maschinenöl wie eine Geliebte, die ich damals hier zurückließ.
Ich ließ meinen Blick von der Anlegestelle aus über die Stadt schweifen und stellte fest, dass die Lichter der Straßenlaternen genauso schwach und einsam leuchteten, wie ich sie in meiner Erinnerung behalten hatte.

Bastok-Hafen mag einer der bedeutendsten Häfen des gesamten Kontinents sein, doch bevor er zum Sinnbild für Bastoks wirtschaftlichen Aufschwung wurde, gab es hier nur eine kleine Zugbrücke über den Dalha-Fluss.
Roger, der schon vor Generationen in dieser Stadt lebte, erzählte mir einst davon und ich überschritt genau jene Brücke, als ich mich an seine Worte erinnerte.

Ich wurde zwar in einem vom Krieg zerrütteten Land geboren, doch mit dem großen Kristallkrieg assoziierte ich niemals mehr als langweiligen Geschichtsunterricht. Für Roger hingegen war der Kristallkrieg ein reales Ereignis, das seinen Vater das Leben kostete. Als er mir davon erzählte, bewegten mich seine Worte so sehr, dass ich nicht einmal mehr einschlafen konnte...

Vor 20 Jahren, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, verließ Rogers Vater seine Familie mit den Worten: „Kümmere dich gut um deine Mutter.“ Er wurde damals von der Armee eingezogen, um seinen Dienst als Maschinist auf einem Kriegsschiff abzuleisten...


Roger befolgte die Bitte seines Vaters und kümmerte sich aufopferungsvoll um seine kranke Mutter. Viele Wochen vergingen, bis es eines Tages an der Tür klopfte...
Vor dem Haus stand an jenem Tag jedoch nicht Rogers Vater, sondern ein stämmiger Galka, dessen Gesicht so von Trauer erfüllt war, wie seine Marineuniform von Orden übersät. Damals erfuhr Roger, dass das Schiff seines Vaters bei einem nächtlichen Angriff der Sahagin versenkt und die Leiche seines Vaters niemals gefunden wurde.

Als Roger mit seiner Geschichte fertig war, meinte er, er habe schon lange damit abgeschlossen. Ich konnte jedoch in seinen Augen sehen, dass ihn die Geschichte noch immer so sehr schmerzte, als hätte er seinen Vater erst gestern verloren. Nach dem Krieg verließ er Bastok und wurde Exorzist in einem fremden Land.
Es verschlug ihn danach an viele verschiedene Orte und obwohl der Krieg bereits beendet war, war es ihm noch nicht vergönnt, seinen inneren Frieden zu finden.

In Erinnerungen schwelgend, erschien plötzlich das Bild der Schwarzen Lilien vor meinem geistigen Auge. Vielleicht erkannte Roger seinen Vater in diesen verlorenen Seelen wieder.

* * *

„Süßes, sonst gibt’s Saures!“

Von der Roggenbrücke aus betrat ich Bastok-Markt und Kinder, die bei den Metallwerken spielten, schrien mir entgegen, als wollten sie mich mit diesem Lärm begrüßen.

Am nächsten Tag sollte das Erntedankfest beginnen und die Kinder waren deshalb vor freudiger Erwartung schon ganz aufgeregt. Sie trugen ausgehöhlte Oger-Kürbisse und Hexenhüte. Als der Anführer der Meute einen Befehl schrie, folgten ihm allesamt zu einem Springbrunnen und erfüllten dabei die Straße mit ihrem arglosen Gelächter.

Als wieder Ruhe einkehrte, blieb ich stehen.
Ich werde niemals vergessen, was hier einst passierte.
Es war genau hier, wo ich die Seelen zweier Hexen zur Göttin schickte, auf dass sie endlich Ruhe finden.


„Brian. Gertrude. Läuft alles wie geplant?“

Ich vernahm die vertraute Stimme durch die Linkperle in meinem linken Ohr.
Es war Roger, der aus dem fernen Windurst zu uns sprach.

„Hier spricht Brian. Alles in Ordnung. Ich bin gerade in Bastok angekommen.“
„Gertrude hier. Bei mir läuft auch alles nach Plan. Ich bin vor zwei Stunden in San d’Oria eingetroffen.“

Gertrude ist ein Jahr jünger als ich und für mich immer so etwas wie eine kleine Schwester gewesen. Was ihre Fähigkeiten als Exorzist betrifft, so ist sie mir jedoch um Jahre voraus, weshalb sie mich womöglich als ihren kleinen Bruder wahrnimmt.

„Danke, dass ihr die langen Reisen auf euch genommen habt. Ruht euch erst einmal aus und lasst uns morgen wie geplant das Totenfest für die Schwarzen Lilien abhalten.
Zwei Erwählte werden in jeder Stadt als Hexe umhergehen. Es wäre gut, wenn ihr Abenteurer, die uns bereits beim letzten Erntedankfest unterstützten, dazu bringen könntet, am morgigen Totenfest teilzunehmen. Die Schwarzen Lilien werden diese Abenteurer sicherlich nicht vergessen haben.“

Dank der vielen Abenteurer hat sich die Geschichte dieser sechs tragischen Figuren in ganz Vana’diel herumgesprochen. Viele vergossen ihre Tränen über die von Barden besungene wahre Geschichte, die sich hinter dem Absturz der Hexen in die Finsternis verbirgt.
Es ist schon ein tragisches Schicksal, mehr Akzeptanz nach seinem Tode zu erfahren, als einem zu Lebzeiten vergönnt war...

Es waren genau diese Emotionen, die uns dazu veranlassten, diese Städte erneut aufzusuchen.
Wir würden das Erntedankfest dazu nutzen, ein Totenfest zu veranstalten, mit dem wir die Verstorbenen ehren und um Vergebung für ihre Seelen beten.

„Die Schwarzen Lilien sind nicht länger Ausgestoßene...“
„Oh, ja... Das Mitgefühl dieser vielen Leute soll nicht umsonst sein. Nein, es wird nicht umsonst sein, denn wir werden es dorthin leiten, wo es hingehört...“

Roger flüsterte diese Worte gerade laut genug vor sich hin, dass man ihn überhaupt hören konnte.
„Vielleicht können auf diese Weise auch andere, schmerzhafte Erinnerungen aufgelöst werden...“

* * *

Als ich das Gespräch über die Linkperle beendete, in das ich so vertieft war, und meinen Kopf hob, stellte ich fest, dass die Stadt um mich herum bereits vollkommen in die Schatten der Nacht gehüllt war. Der Mond schien hell und in seinem Licht zeichneten sich die Konturen der Wolken im Himmel ab.

Auf dem Weg zu meiner Unterkunft hielt ich auf einer Brücke inne, die einen unglaublichen Ausblick bot. Licht für Licht erhellten sich die Laternen in den Fenstern der Häuser. Viele davon waren für das Erntedankfest schon typisch gewordene Kürbislaternen, die ein angenehm warmes Licht ausstrahlten und die Gedanken an das kommende Fest wieder vollkommen meinen Geist ausfüllen ließen...

So richtete ich meinen Blick gen Sternenhimmel und sprach:
„Morgen wird in dieser Stadt das Erntedankfest abgehalten.
Möge die Wärme und Freude dieser Leute euch finden und behagen...“


Illustration by Mitsuhiro Arita