Dark Lilies - Die Schwarzen Lilien - (Teil 1)  (13.10.2006)

Das Quartier in der Kathedrale, das mir der junge Mönch zugewiesen hatte, war ganz sicher nicht luxuriös. Aber es war immerhin recht sauber und äußerst gemütlich.
Ich setzte mich auf einen knarksenden Stuhl, schaute andächtig in das lodernde Kaminfeuer und rief mir die Ereignisse der letzten Stunden ins Gedächtnis zurück.

„ ... Fräulein Gertrude, seid herzlich willkommen in San d'Oria!“

Ein ausgesprochen höflicher Tempelritter mittleren Alters war es, der mich in Vertretung des Auftraggebers empfangen hatte.

„Wir sind Euch überaus dankbar, dass Ihr den weiten Weg aus Übersee auf Euch genommen habt und zu uns gekommen seid.
Wisst Ihr, 20 Jahre hatten wir Ruhe. Doch jetzt ist dieser legendäre Hexenbund - die „Schwarzen Lilien“ - wieder aufgetaucht!“


Er senkte kurz seinen Blick und fuhr dann fort.

„Ihr seid noch sehr jung, Fräulein Gertrude. Aber auch Euch sind die „Schwarzen Lilien“ gewiss ein Begriff. Ja, ganz recht - diese sechs Hexen, die damals die ganze Welt erschüttert haben.

In der Chronik unseres Ritterordens sind die Ereignisse von damals genau aufgezeichnet:
Die Hexen gründeten seinerzeit den Bund der „Schwarzen Lilien“ und konnten dadurch ihre ureigenen magischen Kräfte bündeln und sogar noch um ein Vielfaches verstärken. Sie ließen über Nacht alte Zaubersprüche wieder aufleben, und kein Ort auf der Welt blieb von ihrem gespenstischen Treiben verschont.
Aber dann, nur kurze Zeit später, brach der Große Krieg aus, und auf rätselhafte Weise waren die sechs plötzlich nicht mehr gesehen...

Seitdem sind nun zwanzig Jahre verstrichen. Mit der Zeit waren die „Schwarzen Lilien“ nach und nach zu einer Geistergeschichte verblasst, wie man sie vielleicht Kindern erzählt, um sie ins Bett zu scheuchen. Doch nun sind sie wieder hier, spuken in den drei Hauptstädten und erschrecken unschuldige Bürger.“

„Sie spuken umher? Als Geister?“

Der Ritter schaute mir direkt in die Augen und nickte bedeutungsvoll.

„Leute auf der Durchreise und auch Kinder haben in letzter Zeit immer wieder berichtet, dass sie in Ronfaure mit eigenen Augen Geister gesehen hätten. Sie hätten auch immer diese auffallenden Hüte mit umgeknicktem Zipfel getragen.
Es ist zum Verzweifeln! Unsere Tempelritter rühmen sich, die besten Krieger zu sein. Aber selbst sie können keinen Gespenstern beikommen, die körperlos sind und noch dazu durch einen unbezwingbaren alten Zauber geschützt werden.
Fräulein Gertrude, Ihr beherrscht die westliche Kunst des Exorzismus. Ich bitte Euch inständig: Besänftigt die Geister dieser schauderhaften Hexen.“


Auf einmal fielen die Scheite im Kamin knisternd in sich zusammen, und die roten Flammen loderten auf, als wollten sie tanzen.

Die umherirrenden Seelen der Hexen...
Warum nur sind sie vor zwanzig Jahren urplötzlich verschwunden? Warum wohl haben sie ihre Körper verloren? Und warum um alles in der Welt sind sie nun in den Städten wieder aufgetaucht?
Es musste doch einen Grund für all das geben!

Ich nahm rasch meinen Mantel vom Haken und ging.

* * *


Ich verließ die Stadt durch das majestätische Ranperre-Tor. Vor mir tat sich der dichte Wald von Ronfaure auf, der unaufhaltsam an die Hauptstadt heranzurücken schien. Hier in diesem ausgedehnten Waldgebiet waren die Hexen mehrfach gesichtet worden.
Ich folgte dem Weg, der den Wald durchzog, Richtung Süden und traf hier und da auf Leute - sie mochten von den Gerüchten gehört haben oder nicht –, die mit ihren Chocobos auf dem Rückweg in die sichere Stadt waren.

Es dämmerte bereits, und um mich herum kam dichter Nebel auf.
Als ich einen Schritt vom Weg tat und in das Gehölz im Halbdunkel eintauchte, schien es um mich herum von Dämonen nur so zu wimmeln.

Bald tauchten wie aus dem Nichts schauerliche Fledermäuse über mir auf und flatterten mir um die Ohren.
Als ich meinen Zauberstab schwang, verflüchtigten sie sich zwar in alle vier Himmelsrichtungen, aber schon kurz darauf kamen sie wieder. Sie schienen es seltsamerweise nicht auf mein Blut abgesehen zu haben.
Mir kam es eher so vor, als ob sie mich mit ihrem Gekreische ganz gezielt in eine Richtung lenken wollten. Doch sobald ich mein Schritttempo erhöhte, wurde die Luft schwerer und schwerer.

Von vorn überkam mich nun ein ganz merkwürdiger Hauch.
Ich folgte wie verwandelt diesem starken und unheimlichen Reiz, und dann stand „sie“ auf einmal unter einem großen Baum direkt vor mir.

Eine Hexe.

Sie sah so aus, wie man sich Hexen gewöhnlicherweise vorstellt. Sie trug genau diesen spitzen Hut, wie wir ihn aus Kindermärchen kennen, und blickte dennoch so unschuldig drein... Sie mochte genauso alt sein wie ich.
Aber ihre schemenhafte Gestalt verhieß mir, dass sie ihren Körper bereits verloren hatte.

Ich richtete einige Gebetsworte zu Altana, sprach leise eine seelenschützende Zauberformel, trat dann vor die Hexe und breitete meine Hände aus.

„Hexe der Schwarzen Lilien!“

Meine Stimme hallte durch die weite Stille des nächtlichen Waldes.
In diesem Moment lugten ihre tief unterhöhlten Augen unter der Krempe des Huts hervor und leuchteten unscheinbar auf.

„Ich bin eine Schülerin von Altana. Ich bin hier, um Eure Seele zu retten.
Sagt, was sucht Ihr, an diesem Ort zu finden?
Fürchtet Euch nicht, und erzählt mir alles gradheraus!“

Die Hexe spannte die Lippen und murmelte etwas Unverständliches. Es klang wie ein Stöhnen. Wie ein Summen.
Das waren keine Worte, die für ein menschliches Ohr bestimmt gewesen wären.

Wie erfahren ich auch im Exorzieren gewesen sein mochte, solange ich die Worte nicht verstand, die Gedanken nicht begriff, konnte ich die Seele eines Besessenen nicht zu Altana hinüberschicken. Wenn es sich dazu noch um eine gestandene Hexe handelte, gestaltete sich die Sache noch mal um einiges schwieriger.

Wie ich dort so stand und deklamierte, kam die Hexe plötzlich auf mich zu. Lautlos, die Augen weit aufgerissen, den Mund schief verzogen und mit einem beängstigenden Lachen auf ihrem Gesicht ―.

Ich ging augenblicklich in Deckung.
Im nächsten Moment kam sie über mich, und ich spürte, wie sie Besitz von meinem Körper ergriff und ihn durchdrang.
Meine Hände und Füße waren auf einmal wie versteinert, und kalter Schweiß lief mir über den Rücken.

„Aufhören!”

Als ich diesen verzweifelten Schrei ausstieß, war mein Körper wieder befreit und die Hexe in der Dunkelheit verschwunden.
Das ganze hatte tatsächlich nur einen einzigen Augenblick gedauert, aber es hatte in mir das Gefühl niederdrückender Schwere und den Eindruck des sicheren Todes hinterlassen.

Ich schaute zum Himmel hinauf und musste tief seufzen. Die geisterhaften Fledermäuse von vorhin flatterten von dem Spektakel wenig beeindruckt wie schon zuvor über mir.

Jetzt begriff ich. Sie hatten mich hierher zu ihr geführt.

Die Wesen, die in der Dunkelheit leben, verstehen einander.
Das heißt, dass die Biester die Worte der Hexe verstanden haben müssen.
Ob ein Sterblicher überhaupt jemals die Sprache der Hexen verstehen kann?

„Wenn ich nun selbst zum Monster würde...”

Bei diesen halblaut gestammelten Worten schüttelte ich unwillig den Kopf.
Das ging natürlich nicht. Als Exorzistin war ich eine fromme Gläubige und eine so unmoralische Tat verbot sich von selbst.

Mit diesen Gedanken in meinem Kopf begab ich mich wieder auf den Weg zurück in die Stadt.
Irgendwann waren auch die Fledermäuse über mir verschwunden.

* * *


Der nächste Tag.
Auf den Straßen von San d'Oria herrschte geschäftiges Treiben. Die Leute machten Besorgungen und trafen Vorbereitungen für das bevorstehende „Erntedankfest“. Auch die Kinder waren ausgelassen und hatten ihren Spaß beim Dekorieren.
Dieses Fest war ein riesengroßes Ereignis, nicht nur in San d'Oria, sondern auch in Bastok und Windurst.

„Die Hexen sind möglicherweise vom Trubel des Festes angelockt worden. Sie könnten also überall in der Stadt auftauchen.“
„Stimmt. Geister fühlen sich ja bekanntermaßen recht einsam, nicht wahr?“

Ich erinnerte mich, dass meine beiden Freunde Brian und Roger, die als Exorzisten in die anderen zwei Länder gerufen worden waren, gestern abend bei einem Linkperlengespräch davon gesprochen hatten.
Als ich ihm erzählt hatte, was sich in Ronfaure zugetragen hatte, meinte Roger, der älteste von uns, er habe eine Ahnung von dem Gemurmel der Hexe und wolle gleich mal etwas überprüfen gehen. Ob er bis jetzt wohl etwas herausgefunden hat?

Ich war ein wenig besorgt um meine Freunde. Als ich das Schleusentor in Nord-San d'Oria passierte, hatte sich auf dem Weg zum Hafen eine riesige Menschenmenge versammelt.

Als ich mich näherte, um einen Blick auf das Geschehen in der Mitte zu werfen, sah ich einen Mann, der allem Anschein nach ein Händler war und rührungslos auf dem steinigen Boden lag.
Aus seinem Gesicht rannen Blutstropfen, und seine Lippen zuckten unwirklich.

„Sagen Sie, was ist denn hier passiert?“ fragte ich eine Wache, die gleich nebenan stand.

„Ach! Sie sind sogar hier aufgetaucht, diese Hexen. Am helllichten Tage!“

Die schlimmsten Befürchtungen hatten sich also bewahrheitet.

„Ausgerechnet jetzt zum Erntedankfest! Nicht auszudenken, was passiert, wenn sie sich beim großen Maskenumzug unter die Leute mischen. Das gibt eine Katastrophe!“

„Beim Maskenumzug?“

„Wissen Sie das nicht? Zum Erntedankfest verkleiden sich alle Menschen, jung und alt, als gruselige Gespenster und Monster und ziehen durch die Stadt.“

„Ich danke Ihnen. Sie haben mir Hoffnung gegeben. Altana beschütze Sie!”

Daraufhin ging ich und ließ die verblüffte Wache und den immer noch anwachsenden Menschenauflauf hinter mir.


Illustration by Mitsuhiro Arita