Der erste König und der letzte Keks (06.02.2013)

Das beliebteste Souvenir aus Adoulin sind ohne Frage die knusprigen Dschungelkekse. Ihre strahlend blaue Verpackung mit dem prächtigen Adouliner Wappen der zwölf Schwerter lässt die Augen von Kindern und Erwachsenen auf dem Mittleren Kontinent gleichsam strahlen!

Das wusste auch ein san d’orianischer Händler, der nach Adoulin gereist war, um dort ein paar Gil zu machen. Als tüchtiger Geschäftsmann fiel sein Blick natürlich sofort auf einen Stand, der einen Sonderverkauf zur Wiederaufnahme der Kolonisierung anpries. Statt der üblichen zwölf Kekse enthielten die dortigen Schachteln gratis einen dreizehnten! Was für ein Schnäppchen!

Der Händler war sehr zufrieden mit sich und seinem Geschäft. Mit einer lässigen Handbewegung ließ er das Mitbringsel, welches für seine Söhne bestimmt war, in seinem Reisegepäck verschwinden. Noch ahnte er nicht, dass er damit in San d’Oria fast den zweiten Großen Krümelkrieg auslösen würde.

Ein erbitterter Kampf tobte vor dem Auktionshaus in Süd-San d’Oria.

Bei den schonungslosen Kontrahenten handelte es sich um … zwei Kinder, genauer gesagt zwei Brüder, Eautaire und Brandalle.

„Gib ihn mir zurück!“
„Nichts da! Der letzte gehört mir! Ich bin schließlich der ältere!“

Das Objekt des Streits war nicht mehr (und nicht weniger) als ein einzelner Keks, den Eautaire in seiner Hand hielt. Ihm lag nicht sonderlich viel an dem Keks, aber er wollte seinem jüngeren Bruder gegenüber nicht klein beigeben. Schon gar nicht in so einem Grundsatzstreit, der als Präzedenzfall Auswirkungen auf alle zukünftigen Keksverteilungsverfahren haben konnte.

In diesem Augenblick schaltete sich der betagte Balasiel ein:
„Ihr da! Worüber streitet ihr euch?“
„Unser Vater hat uns Kekse aus Adoulin mitgebracht, aber Eautaire will nicht gerecht mit mir teilen! Er will den letzten Keks alleine essen! Das ist gemein!“
„Das ist das Vorrecht des älteren Bruders. Du könntest dich etwas in Bescheidenheit üben!“

Balasiel warf einen Blick auf den Beutel, in dem sich die Kekse befanden hatten, und sah dort das Wappen des Heiligen Adouliner Städtebunds.
„Tatsächlich, ein Mitbringsel aus Adoulin. Das bekommt man nicht alle Tage zu Gesicht.“


Eautaire fühlte sich von Balasiels Aufmerksamkeit ermutigt und sagte stolz:
„Das Wappen hat richtig Schneid, nicht wahr? Zwölf Schwerter … Das Schwert ist eine wahrlich ritterliche Waffe!“
„Du hast ja keine Ahnung! Die Flagge von San d’Oria ist viel besser. Das weiß doch jeder!“, meldete sich der jüngere zu Wort.

So stritten die beiden Brüder nun darüber, welche Flagge die bessere sei. Balasiel kniff die Augen streng zusammen und schickte sich an, die Streithälse zu ermahnen.
„Wisst ihr denn überhaupt, wofür die Flagge Adoulins steht?“

Die Brüder hielten inne und schauten Balasiel an.

Jetzt, da er die Aufmerksamkeit der Kinder hatte, sagte er mit ruhiger Stimme:
„Als ich noch jung war, nicht viel älter als ihr es jetzt seid, bin ich durch die Lande gereist, um so viel wie möglich über das Rittertum zu lernen. Dabei war es mir vergönnt, einmal einen Blick auf die Chronik Adoulins zu werfen.
Wissbegierig saugte ich alles auf, was ich über das Adouliner Rittertum und seine Sagen erfahren konnte, aber die Sage des Ritters August ist mir besonders in Erinnerung geblieben.
In den Überlieferungen wird er später der erste König oder Gründerkönig genannt. Es heißt, dass er elf Ritter um sich versammelte und seinen Kontinent gegen eine sich ausbreitende Bedrohung verteidigte. Es ist eine richtige Heldengeschichte wie sie die wagemutigsten Abenteurer zu erzählen wissen!“

„Boooa!“, entfuhr es Eautaire und seine Augen funkelten vor Begeisterung. Er wollte mehr über das Schicksal des ersten Königs hören. Der jüngere Brandalle hingegen interessierte sich mehr für das Schicksal des letzten Kekses.

„Das Schwert in der Mitte steht für den Gründerkönig August. Und die elf Schwerter ringsherum symbolisieren die elf Ritter, die ihm zur Seite standen.“
„Hat die Feder auch etwas zu bedeuten?“
„Die Feder stellt die Göttin Altana dar, die über Adoulin genauso wacht wie sie es über uns tut. Dort verehrt man sie in einer antiken Glaubensrichtung namens Eimert.“
„Prinz Trion ist ein verwegener Mann, aber dieser August hat es auch drauf!“

Eautaire war ganz eingenommen von der Sage des Ritters. Der Streit um den Keks war vollkommen vergessen.
„August … Den Namen muss ich mir merken“, sagte er zu sich selbst.

„Ich werde auch eines Tages ein Held sein, von dem man in Sagen erzählt. Mit dem Schwertkampftraining habe ich schon begonnen!“
„Wenn du zu einem kräftigen Mann herangewachsen bist und mit dem Schwert umzugehen gelernt hast, dann statte mir einen Besuch ab. Es gibt da ein paar Dinge, die ich dir über das Rittertum beibringen kann.“

Und während er das sagte, nahm Balasiel den verbliebenen Keks, zerbrach ihn in zwei gleiche Hälften und verteilte sie an die zwei Brüder.
„Ein kluger Ritter hebt sich seine Kräfte für die wichtigen Kämpfe auf“, sagte er und zwinkerte Eautaire verschmitzt zu.

Mit einem genüsslichen Biss begruben die zwei Kontrahenten ihren erbitterten Streit um den letzten Keks aus Adoulin.


Illustration: Mitsuhiro Arita